KARAOKE

Es war 18.00 Uhr, und es gab nicht viel zu tun - zum Glück. Draußen war es schon dunkel; das hat die Winterzeit so an sich. Ich lag auf dem Sofa und schaute mir irgendwelchen Müll in der Glotze an. Ich schaue selten fern und trinke Bier dabei. Wie ein echter Mann. Fernsehen macht dumm; und dümmer will ich schließlich auch nicht werden. Wenn ich kein Fernsehen schaue, trinke ich auch. Wie ein echter Mann.
           Meine Freundin, Simone, erzählte mir, dass an diesem Abend ein Besuch in der naheliegenden Studentenkneipe anstehen würde. Ihre Bekannte, Kerstin, Studentin der Sonderpädagogik (ohoh!), würde eine Karaoke-Anlage mitbringen und eifrige Studenten zum Singen bewegen. Viele gingen da hin, weil sie außer singen nichts konnten. Die wenigsten konnten übrigens wirklich singen.
           Ich hasse Studenten, weil viele nicht in der Realität leben, noch nie die Lasten und Ärgernisse der Arbeitswelt erfahren haben. Sie denken, die Welt wäre so rosarot, wie sie sie sehen. Ekelhaft. Ich hasse eigentlich ziemlich viele Menschen, der menschlichen Natur wegen, und ertrage sie nur, wenn ich einen Sitzen habe. Die meisten sind oberflächlich, egoistisch und verlogen - nicht auf meiner Wellenlänge. Sympathisch sind mir die, die Weltwirklichkeit im Kopf haben. Das kann auch mal ein Bahnhofspenner sein.
           Nun, dachte ich mir, auch in Studentenkneipen gibt es Bier - deshalb ging ich mit. Zuvor jedoch machte ich noch einen schwerwiegenden Fehler: ich rief einen Kommilitonen mit dem klangvollen Namen Jochen an, mit dem ich manchmal etwas unternahm; meistens soffen wir uns einen an. Das ergab sich dann, wenn wenigstens einem von uns einmal langweilig wurde. Jochen wurde es oft langweilig, mir nicht so oft. Er wollte um 21.00 Uhr kommen. Ich rechnete mit 21.40 Uhr und hatte im Nachhinein recht. Man konnte echt auf ihn zählen.
           Wir kamen also rein in die Kneipe und ich bestellte mir erst mal ein Bier. Ich meine, wie sollte ich es sonst lange aushalten? Es waren noch nicht viele da. Mir gefiel die lange Theke gleich am Eingang. Die Decken waren hoch, das Licht etwas gedämpft. Der Laden hatte Stil und hätte Atmosphäre gehabt, wären da nicht die Studenten gewesen.
           Meine Freundin kam besser mit Menschen aus als ich. Sie hatte sogar echte Freundinnen. Von denen verabscheute ich eine mehr als die andere. Sie waren zum Kotzen. Wenn sie mal zu Hause bei uns auf der Bude waren, qualmten sie Zigaretten noch und nöcher und unterhielten sich über Kochrezepte, Frisuren, Sauberkeit und sonstige Kleinig- und Nichtigkeiten ihres kleinen und nichtigen Lebens, die mich einen Scheißdreck interessierten. Sie waren hysterisch, weil ihre Eltern sie unterdrückt und ihnen Scheiße ins Ohr gesetzt haben. Ihr wisst schon: Anstands-, Moral- und Etikettenbewusstsein. Verdrängung des Triebes usw. Die armen Männer von denen, dachte ich. Sowas kann man über Generationen weiter vererben. In der Zeit verdrückte ich mich mit Ohropax vor den Computer.
           Wir standen also da zwischen lauter Menschen mit Masken und warteten darauf, dass es losging. Der Raum füllte sich. Unglücklicherweise kamen einige - andere -Freundinnen von Simone an unseren Stehtisch. Jetzt brauchte ich unbedingt Nachschub. Ich leerte das Glas in einem Zug und ging an die Theke. »Fünf Radler und ein Pils!«, sagte ich zum Barmann. »Und noch ein Pils zwischendurch!« (Wieso auch nicht, fünf Radler brauchen ihre Zeit) Das Pils war wichtig. Ich nahm dann die Getränke auf einem Tablett mit zu unserem Stehtisch und verteilte sie. Infantil aussehende Geldbörsen wurden von unfreiwilligen Komikern hervorgezogen. »Wieviel kriegst du denn?«, fragte eine Fistelstimme mit einer hässlichen Brille an. Was für ein Müll, dachte ich. Um sie alle etwas zu überraschen, sagte ich: »Hey, passt auf. Lasst die Kohle stecken, ich melde mich, wenn ich später was brauche.« So etwas hatten die mit Sicherheit noch nie gehört. Gut, Ich wusste, dass ich sie später wirklich ansprechen musste, um etwas zu kriegen. Von selbst kommt dieser Menschenschlag ja nie drauf. Nebenbei, ich bekam von denen nichts mehr.
           Ich trank also mein Bier ziemlich schnell runter und meine Stimmung erlebte einen kleinen Höhenflug. Weil ich schon ziemlich einen hängen hatte, kam ich auf eine, wie ich in dem Moment fand, tolle Idee: ich könnte ja auch einen Song zum besten geben. (Es ist erstaunlich, wie mutig man beim Saufen wird.) Ich nahm mir ein Songbook vom Nachbarstisch, der ebenso mit Weltfremden bestückt war; ich tippte auf den Studiengang Grundschulpädagogik. Kaum war ich am Lesen, kam völlig unerwartet Jochen. Den hatte ich schon vergessen. Er hatte zum Glück den Pulli an, dem ich ihn einmal geschenkt hatte, weil ich seine zu konservativ-loserhaft fand. Sein Outfit erinnerte mich oft an das eines Teenagers, der nie neŽ Tussi abkriegt. Nicht dass ich es auf ein glänzendes Äußeres anlege: sehe eben gerne gut aus.
           Jochen war der geborene Egoist, ein Parasit. Man konnte ihn monatelang durchhalten, ohne, dass er sich einmal dafür bedankte. Er hatte viele Abende bei mir gesessen, gesoffen, gegessen ohne sich zu revanchieren. Nun denn. Scheiß drauf. Auch ein Einzelgänger braucht von Zeit zur Zeit ein Männergespräch. Wenn ich mich recht entsinne, wurden auch diese Gespräche unter Standgas geführt. Jochen wusste nicht über sich bescheid, wie die meisten Menschen. Er rannte von einer Frau, zur nächsten immer mit der Hoffnung, es wäre die richtige. Er war sehr schnell zu begeistern, wie in kleines Kind.
           Die Songs sprachen mich nicht sonderlich an: lauter Schnulzen, bei denen das Bier sauer wird, wenn man es nicht schnell genug trinkt. Ich entschied mich für einen Rock-Titel aus den 80er-Jahren: Message of Love - von Journey. Ich liebe Rock. Ich füllte einen Zettel aus, trat an die Bühne und drückte ihn Simones Freundin in die Hand. Kerstin, so war ihr Name, war gut gebaut und stolz da oben auf der Bühne. Es ist erstaunlich, dass sich Menschen, die sich um die Aufmerksamkeit anderer Menschen wissen, so wichtig und unersetzbar fühlen. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und blickte nicht einmal ins Publikum. Sie genoss es. Menschen sind so leicht zu durchschauen.
           Mir war es einerlei, und ich ging zurück an den Stehtisch. Kein Bier mehr da. Ohoh. Jochen, der mir, wie so oft erzählte, er sei pleite, holte welches. Das würde ein teuer Abend werden, wusste ich. Ich drückte ihm den Kies in die Hand. Wir tranken also noch ein bisschen weiter, machten Smalltalk und glotzten rum. Simone war mit ihren Freudinnen beschäftigt.
           Jochen hatte eine permanente Dauerlatte: er wollte alles bumsen, was irgendwie nach einer Frau aussah. Dann wurde mein Name aufgerufen. »Und jetzt kommt, ich kanns nicht lesen, ah DJ Marcus!«, sagte Mrs.Wichtig.
           Aha, jetzt geht's los, dachte ich. Ich nahm ein volles Glas Bier und wand mich durch die Menge in Richtung Bühne. Als ich ankam, war das Bier nicht mehr ganz so voll wie am Anfang. Ich nahm mir das Mikro und gab der Karaoke-Mieze ein Zeichen, sie solle kurz warten. Ich ergriff das Wort. Einige Lampen strahlten mir direkt in die Augen. Ganz schön heiß, dachte ich. Sie blickten mich an.
           »Okay, Leute. Ich singe nur, weil ich scharf auf das Freigetränk bin. Wenn ihr nach dem Song klatscht, dann werde ich dieses Bier hier auf ex runterkippen!«
           Ich hatte schon immer ein Gespür für angepasste Komik. Ich wusste, dass die Mehrzahl mich jetzt ziemlich zum Kotzen fanden. Das war auch gut so. Immer etwas anderes sein als die Masse.
           Dann begann der Song. Das Besondere an diesem Lied war, dass es einen langen Anlauf nahm, bis der Gesang einsetzte. Es dauerte mir zu lange: ich bückte mich runter zum Bier, hob das Glas hoch und leerte es in einem Zug. Tja, Leute, habe ich euch zuviel versprochen, dachte ich. Nun denn, jetzt musste auch gesungen werden. Nach der Pflicht die Kür. Die Tatsache, dass ich die Töne traf, obwohl ich schon Schlagseite hatte, war schon erfreulich; die Tatsache, dass ich keine ästhetische Stimme habe, eher unerfreulich - nicht für mich, für die Zuhörer. Leider vergaß ich ab der zweiten Strophe die Intonation, was mich dazu veranlasste, etwas zu tanzen - ohne dabei zu singen. Nun denn, der Song war irgendwann zu Ende. Einige buhten mich aus. Ich sagte: »Okay, wer war das?«
           Das Singen hatte mich durstig gemacht; deshalb ging ich wieder an die Theke, um mir mal wieder ein Pils zu bestellen. Pilsday today. Okay, meine Aufgabe war getan. Jetzt begann der angenehme Teil des Abends, dachte ich mir. Jochen kam mal wieder angeschissen und erzählte mir einige Geilheiten von ihm über verschiedene Tussis, die uns unter die Augen kamen. So eine Begeisterungsfähigkeit für unbekannte, geil-aussehende Tussis! Unglaublich. Der ist so oft auf die Fresse gefallen und hat nie etwas daraus gelernt. Ich wurde leicht aggressiv. Neben uns, an den Stehtisch, gesellten sich zwei Mädels, die ganz so aussahen wie Grundschulpädagogen. Typischer infantiler, konservativer, unschuldiger Look. Die fanden immer das, was ich interessant fand, uninteressant und umgekehrt. Ich spreche aus Erfahrung.
           Jochen - wie immer mit einem lüsternen Blick und ausgebeulter Hose - war sofort angetan und meinte: »Die sehen aber gut aus!«
»Ja, und?« sagte ich »die sind doch bescheuert in der Rübe, schau sie dir doch mal an!«
»Die sehen aber gut aus«
Was für ein Idiot, dachte ich. Ich drehte mich zu ihnen und sagte: »Hallo, was studiert ihr denn?«
»Grundschulpädagogik, warum?«
           Es wurde später und später; Menschen sangen auf der Bühne mehr schlecht als recht. Ich trank. Meine Laune wurde von Minute zu Minute schlechter. Was mache ich eigentlich hier? dachte ich. Zunehmend wurde es mir unter all diesen Menschen, die ich so sehr verabscheute, unwohl. Ich hielt es nicht mehr aus und wollte heim. Simone, wie immer verständnissvoll, zeigte Einfühlungsvermögen. Ich lies sie alle zurück, die Grupäds, die Jochens, die Lügner, die Singer - viel Spaß noch. Ich fiel wenig später ins Bett, und die mächtige Woge des Nichts lullte mich ein und gab mich bis zum nächsten Morgen nicht mehr

von Henry Miller

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