Am Fenster

Die rötlichen abgeschürften Wunden an meinen Ellenbogen rieb ich vorsichtig mit Franz- Branntwein ein. Nahm selbst noch ein Schluck schaute gurgelnd aus dem Fenster. Positionierte meine Armgelenke wieder auf den Fenstersims. Von hier hatte ich den großen Überblick, der Westflügel unseres elf stöckigen Altbautes an der Herman-Sachs. Straße mitten in Berlin verlieh förmlich zum kieken ein. Hier ist die Welt anders wie in anderen Ländern. Hier gehen die Menschen anders miteinander um. Oft herrscht hier großes Durcheinander. Zu viele aneckende Mentalitäten, Sitten, Gebräuche, Religionen und Weltansichten.
Ein großer Getränkewagen biegt um die Ecke, überrollt ein Skaterkid. Normal! Skater gibt es an jeder Ecke, sind austauschbar. Das Kind hebt sein Rollbrett auf, winkt den Fahrer überlebungssicher zu und wird von einer Horde Radrennsportler erneut über den Haufen gefahren. Zeit ist hier in Berlin knapp, keiner weicht aus. Vielleicht Hundert Räder rollen so über den Skaterkörper drüber weg. Wohl möglich ist er tot, ich weis es nicht, will es gar nicht wissen. Meine Blicke schweifen weiter, der Duft von Tzaziki, Knoblauch und Dönerfleisch wechseln sich in den Winden, die durch alle Gassen ziehen, ab. Die Berliner Luft erinnert an Ankara, erinnert mich an meinen letzten Orient Besuch, glaube kurzzeitig nicht zu Hause zu sein. Setze mir einen Turban auf, will nicht auffallen. Ein Radkurier wechselt seine Ölbeschmierte Fahrradkette, ein Türke steht hinter ihn , zwirbelt an seiner Gebetskette, vielleicht ist sie in Olivenöl getränkt. Ein Inder grinst von der anderen Straßenseite freundlich rüber, Skinheads rufen Hetzparolen aus den ober liegenden Fenstern, auch sie grinst der Inder freundlich an. Wird sie nicht verstanden haben, scheint neu hier zu sein, guten Abend! Berlin!
Gehe kurz pissen, komme wieder ans Fenster. Der Inder kann unheimlich schnell rennen, stellte ich mit einen überraschten Blick fest, der Haufen Kahlpolierter dummerweise auch. Sie reißen ihn zu Boden und hopsen auf ihn rum. Wenig später kommt ein Krankenwagen, holt den Rest Inder ab. Viele Dinge die hier geschehen sind nicht o.K.
Eine alte Rentnerin wird soeben die Handtasche entrissen. "Feige Sau"!, schreie ich den weglaufenden hageren Kerl hinterher." Brauche den Stoff"!, jammert er im Piepton zurück. Na dann. Hier unterstützen Rentner unfreiwillig Junkies. Eine fast heile Welt, will ich mir einbilden.
Ein Autounfall tut sich vor meinen Augen auf. Zwei Italiener stehen sich gegenüber, geben sich freundschaftlich die Hände, zum erfolgreichen Crasch. Versicherungsbetrug. Erst als die Polizei auftaucht beginnen sie aufeinander ein zu schimpfen. Der Polizist nimmt gelassen das Unfallprotokoll auf, routiniert. Macht es nicht zum ersten mal, man sieht's ihn an.
Eine in den Jahren gekommene Frau steht Zukunftssicher an einer grauen Hausmauer, stramm wie ein Soldat hält sie einen Wachturm in Brusthöhe, ein betrunkener Mann versucht einige Sätze aus diesem Wunderheftchen zu entziffern. Fängt an mit der Frau zu diskutieren. Gott ist doch tot lallt er, Nitsche zitierend. Die Zeugin Jehovers versucht ihn vom Gegenteil zu überzeugen, holt noch mehr Heftchen hervor und fängt an zu reden und blättert sich kaputt. Der Besoffene taumelt kopfschüttelt weg. Wie lange würde es dauern, bis das versprochene Paradies so aussehen würde wie Berlin? Menschliche Gewohnheiten lassen sich doch nicht so leicht ablegen. Mh, jetzt bin ich im Paradies, jetzt rauche ich nicht mehr. Is doch tuluks. Und überhaupt, was käme dann? Ich habe ja dadurch das ich schon zehn Jahre Arbeitslos bin und ich aufgrund meiner Bescheidenheit gut von meiner Arbeitslosenstütze leben kann, schon mal hin und wieder Langeweile. Was machen die Leute den erst mal im Paradies, die müßten sich doch zu Tode langweilen. Ich machte einen kräftigen Zug an meiner Zigarette, quetschte mir einen Beutel Maloxan in den Hals und ließ mein Blick wieder schweifen. Ein Rudel Hoffnungsloser biegt um die Ecke, Die Haare stehen kunterbunt in der Luft, Fuck off, piss off, shit off, Bullen geht nach Hause. Ich kann nicht alle Sticker auf ihren Jacken erkennen , aber vereinzelt schon. Morgens Anarchie, Mittags bei Muttern essen gehen und Nachmittags die böse angepaßte Gesellschaft anschnorren. Haste mal ne Mark, muß mein erbärmliches Leben mit einen Rausch zügeln, unterdrücken, wegbimen, was weis ich. Ja, ja Anarchie ist wichtig, schmeißt uns voll nach vorne. Abends wird dann über Politik diskutiert, die Grünen, die sind gut, die tragen Rollkragen statt Schlips. Atomkraft finden die scheiße, ne Anlage hat trotzdem jeder zu Hause. Außerdem kiffte der Verteidigungsminister und wenn es mal Krieg geben sollte, dann ist er, der erste der sich mit einer Keule verteidigen wird. Jede Keule ne Beule, vier Milliarden Chinesen, viel Spaß. Ich selbst weis momentan nicht was ich von alledem halten soll, nicht das ich keine eigene Meinung hätte, es ist nur so. Die Welt ändert sich momentan in raschender Geschwindigkeit. Man sollte sich nicht immer an festgefahrenen Ideologien klammern, nur um sagen zu können, ey hört mal, ich habe ne eigene Meinung...
Ein junges Ding steht lässig angelehnt gegenüber an der Hauswand. Ein Wagen hält neben ihr. Nach kurzen Wortaustausch mit den Unbekannten steigt sie in die Durchschnittskarre. Ein Durchschnittsfick kostet hier zwanzig, wenn's hoch kommt dreißig Mark. Das Mädel war höchstens fünfzehn, gutes Taschengeld, verpfuschtes Leben. Berlin!
Vor der Bank sehe ich zwei Schwarzafrikaner, sie tauschen etwas aus, wahrscheinlich Crack. Die Todesdroge hat nun auch hier ihre Premiere schon hinter sich. Amerika wir kommen. Manches mal verstehe ich den Fremdenhaß, will ihn nicht gut heißen, wäre es mein Kind welches unter dieser oder einer anderen Droge stürbe wüßte ich was ich zu tun hätte. Bereichern durch des Todes unserer Kinder. Es gibt Grenzen, auch in der Gastfreundschaft, man sollte sie nicht mißbrauchen. Eine Meinung hätte ich da doch. Kenne viele verschiedene Menschen unterschiedlichster Herkunft, sind ne menge guter Leute dabei, will nicht verallgemeinern. Will nicht mißverstanden werden. Bin zwar kein waschechter Berliner sondern polnischer Einwanderer, ab er ich weis wo meine Heimat ist. Hier, hier in Berlin.
Berlin ich liebe dich. Berlin ich hasse dich.

von Ulle Bowski

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